Hinweis: Dieser Text ist keine politische Analyse – er ist Ausdruck meiner persönlicher Betroffenheit und innerer Auseinandersetzung. Was ich schreibe, geschieht aus Mitgefühl, Schmerz und der Suche nach Worten für das Unfassbare. Ich nehme an, dass hinter der Tat an Tze’ela Gez eine fanatische, religiös motivierte Überzeugung stehen könnte. Diese Annahme entspringt dem, was ich gehört, gelesen und innerlich verarbeitet habe – sie ist nicht belegt, sondern Teil meiner eigenen Deutung. Ich möchte mit meinen Worten weder pauschalisieren noch verurteilen – sondern zum Nachdenken und Mitfühlen anregen.
Aus aktuellem Anlass habe ich mein Wochenthema angepasst.
Heute morgen habe ich von Tze’ela Gez gehört – einer jüdischen 32 jährigen Frau, Mutter von drei Kindern, im neunten Monat schwanger. Gemeinsam mit ihrem Mann war sie gestern am 15. Mai 2025 auf dem Weg ins Krankenhaus zur Geburt ihres vierten Kindes, als sie auf brutale Weise durch Pistolenschüsse getötet und ermordet wurde. Ihr Mann überlebte. Ihr Baby konnte unter dramatischen Umständen entbunden werden. Vier Kinder bleiben zurück – ohne ihre Mami.😭😨 Ein Neugeborenes, das seine Mami nie wird sehen können und im Bauch miterleben musste wie seiner Mutter das Leben verliert, das ihm hätte das Leben geben dürfen. Wie brutal ist das denn!
Es hat eine Weile gedauert, bis ich realisiert habe, wie sehr mich diese Nachricht getroffen hat. Ich bin Erschüttert. Gelähmt. Traurig. Fassungslos. 😱😱
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich selbst in Israel gelebt habe –sechs Monate lang, voller Begegnungen, voller Geschichten. Oder daran, dass ich sowohl in England als auch in den USA als Nanny und Aupair bei jüdischen Familien gearbeitet und mit ihnen gelebt habe. Vielleicht berührt es mich deshalb noch näher, noch tiefer – oder einfach, weil ich selbst Mutter bin und glaube, dass das Leben heilig, unantastbar und von Gott der in Jesus Christus Mensch wurde geschenkt ist. Oder auch einfach weil ich mich als Frau mit dieser Frau menschlich verbunden fühle!
Diese Tat macht auf erschreckende Weise deutlich, wie zerstörerisch eine fanatische, krankhafte mentale Überzeugung wirken kann – wenn ein Mensch glaubt, jüdisches Leben bedrohe die eigene Weltanschauung oder Familie und sei weniger wert. Offenbar entspringt sie einer religiösen Ideologie, die Kontrolle über das Leben stellt und in blinder Loyalität jede Menschlichkeit verdrängt.🤔 Darüber müssen wir reden!
Nachtrag am 29. Mai 2025: Das Baby ist am Morgen des 29. Mai an seinen schweren Verletzungen verstorben 😭 Little Ravid Chaim darf nun für immer mit seiner Mami sein.
„New Day Will Rise“ Yuval Raphael: Eine Stimme, die in dunklen Zeiten Trost und Verbindung schenkt
Gestern habe ich mir die Vorauswahl des Eurovision Song Contests angeschaut. Das Lied der israelischen Sängerin Yuval Raphael „New Day Will Rise“ , die den brutalen und mörderischen Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 überlebt hat, hat mein Herz tief berührt.
Im Lied von Yuval geht es darum, schwierige Erlebnisse zu verarbeiten.
Besonders eine Zeile hat sich in mir festgesetzt: „Everyone cries – Don’t cry alone.“ („Alle weinen – weine nicht allein.“) Diese Worte sprechen direkt zu meinem Herzen. Das jüdische Volk weiss, wie gemeinsames Trauern geht. Soweit ich es verstehe, wird Schmerz dort nicht verdrängt – er wird in die Gemeinschaft getragen, geteilt, gemeinsam gehalten. Das hat heilende Kraft. Yuval gibt uns mit diesem Lied eine tröstliche Botschaft für unser aller menschliches Leiden: Wir sollen nicht allein trauern. Wir dürfen den Schmerz in die Gemeinschaft tragen – denn dort kann er gesehen, gehalten und vielleicht sogar ein Stück weit geheilt werden.
Und genau diesen Song, diese Botschaft einer jungen israelischen Frau für Juden und Nichtjuden, möchte ich der Familie von Tze’ela Gez zusprechen. Ihr Leid ist unermesslich. Ihr Schmerz verdient Raum – und eine Gemeinschaft, die ihn trägt.
…And even if you say goodbye
You’ll always be around
To lift me up and take me high
Keep my feet close to the ground
Are you proud of me tonight
Dreams are coming true
I choose the light
Nothing to lose if I lose you
New day will rise
Life will go on
Everyone cries
Don’t cry alone
Darkness will fade
All the pain will go by
But we will stay
Even if you say goodbye…
__________
Und selbst wenn du auf Wiedersehen sagst,
wirst du immer da sein,
um mich hochzuheben und hochzutragen. Ich
halte meine Füsse dicht auf dem Boden.
Bist du heute Nacht stolz auf mich?
Träume werden wahr.
Ich wähle das Licht. Ich
habe nichts zu verlieren, wenn ich dich verliere.
Ein neuer Tag wird anbrechen.
Das Leben wird weitergehen.
Jeder weint.
Weine nicht allein.
Die Dunkelheit wird verblassen.
Aller Schmerz wird vergehen.
Aber wir werden bleiben,
auch wenn du auf Wiedersehen sagst.
Danke Yuval Raphael für dieses berührende Hoffnungsspendende Lied!
Verstehen – aber nicht entschuldigen
Im Dezember letzten Jahres 2024 durfte ich an einer Weiterbildung teilnehmen zum Thema: „Beratung grenzverletzender Menschen unter Berücksichtigung kultureller Aspekte.“
Die Kursinhalte waren vielschichtig und herausfordernd:
- Eine kurze Einführung in den phänomenologisch-emotionalen Ansatz (Phaemo-Ansatz)
- Welche Funktion kann destruktives, auffälliges oder gewalttätiges Verhalten erfüllen?
- Der Umgang mit Aggression und Gewalt im Beratungskontexte
- Die Bedeutung von Respekt, Ehre und Verantwortungsübernahme
- Die Rolle von Gefühlen wie Ohnmacht, Scham, Angst und Wut
- Unterschiede und Gemeinsamkeiten in kulturellen Deutungen und Erwartungen
Besonders ein Moment dieser Weiterbildung ist mir nachhaltig in Erinnerung geblieben. Der Leiter der Weiterbildung nahm uns mit in einen Gesprächsverlauf und erklärte anhand eines fiktiven Beratungssettings einzelne Stationen des Gesprächs. Die Delikte, um die es ging, waren klar und deutlich zu benennen.
Ein Wendepunkt in meinem Denken
Stelle dir vor ein Mensch, der – wie in der eingangs erwähnten tragischen Geschichte – eine Mutter auf dem Weg zur Geburt ihres Kindes brutal ermordet hat, sitzt im Beratungsraum.
Unweigerlich stellt sich uns die Frage: Was ist vorher geschehen? Was hat diesen Menschen zu solch einer Tat veranlasst? Was hat dazu geführt? Welche Verletzungen, welches Umfeld, welche Auslöser könnten erklärt haben, wie es zu dieser Tat kam? Doch der Kursleiter erklärt, dass in seinen Setting keine Warum Fragen gestellt werden. Es werden Fragen gestellt zur Tat was war? Wie geht es dir und es wird an und mit den Gefühlen gearbeitet. Insbesondere mit Ohnmacht und Scham.
Der Kursleiter machte an diesem Punkt auf eine Tendenz aufmerksam, die er seit Längerem an Ausbildungsstätten für Sozialarbeit oder Sozialpädagogik beobachtet:
Man versucht Täter und ihre Delikte über ihr „Opfer sein“ zu verstehen, um sie besser therapieren zu können und kann dabei aus dem Blick verlieren , dass sie in diesem Moment Täter sind – und verantwortlich für ihre Taten. (Ich meine das so verstanden zu haben) Du darfst mich gerne korrigieren wenn dem nicht so ist.
Auch für mich war das ein innerer Wendepunkt. Ich bin eine sehr empathische Frau und Mutter. Durch mein Studium und meine intensive Beschäftigung mit Entwicklung und Bindung meine ich, viele Prozesse im Menschen nachvollziehen zu können – und gerade deshalb kann ich oft mitfühlen, warum jemand gewalttätig wird. Doch genau an dieser Stelle wurde mir etwas bewusst:
Verstehen ist nicht gleich Entschuldigen. Und Empathie darf nicht zu einer Verklärung führen, bei der das Opfer aus dem Blick gerät und das „Opfer sein“ des Täters in den Mittelpunkt gerückt wird.
Der Leiter erklärte weiter, dass Delikte klar und deutlich zu benennen sind. Sollte ein Täter versuchen, sein Verhalten mit Begründungen zu entschuldigen oder zu relativieren, sei es entscheidend, ihn auf sein konkretes Handeln hinzuweisen – ohne das Leid, das er möglicherweise selbst erfahren hat, dabei zu leugnen. Ein möglicher Satz, den er nannte, lautete:
„Ja, das ist schlimm, was dir passiert ist – und wir werden auch darauf eingehen. Aber du hast dieses Delikt begangen.“
Der Berater verweist den Täter immer wieder auf das, was er getan hat – als erwachsener Mensch. Und genau das war der Punkt, der mich zutiefst berührt hat. Denn: Die Tat wird nicht durch das entschuldigt, was der Täter selbst erlebt hat. So wichtig es ist, biografische, kulturelle oder religiöse Hintergründe zu verstehen – das Opfer sein ersetzt nicht die Verantwortung für das eigene gewaltsame Handeln. Das Leiden, die Geschichten, die Verletzungen – all das kann erklären, aber nicht entschuldigen, was ein Mensch als Erwachsener anderen antut.
Was möchte ich mit meinen Worten sagen und erklären? Was Tze’ela Gez und ihrer Familie angetan wurde ist mit nichts zu entschuldigen. Es ist Mord und bleibt Mord. Ich hoffe der Täter kann zur Rechenschaft gezogen werden und darf irgendwann zur Einsicht kommen was er der Familie angetan hat. Dazu wünsche ich der Person die göttliche Gnade und Kraft fühlen zu dürfen und menschlich zu werden.
Fazit
Klarheit und Mitgefühl – kein Widerspruch
Es gab eine Zeit, da hätte ich mich nicht so klar ausdrücken können. Ich war geprägt von tiefem Mitgefühl – so tief, dass ich oft Mühe hatte, Grenzen zu setzen. Denn ich weiss : Alles Potenzial liegt in uns. Auch das destruktive. Doch heute sehe ich mich nicht mehr als Opfer meiner Umstände. Ich bin gewachsen, nachgereift (würde Dr. Gordon Neufeld sagen) – durch Erfahrungen, durch Erkenntnisse, durch Menschen, die mich herausgefordert haben, durch Wort Findungen und durch die Weiterbildung, die meine Haltung nachhaltig verändert hat. Auch wenn mich manchmal noch eine alte Welle von Selbstmitleid streift. Aber ich kann sie ziehen lassen – und mich wieder aufrichten. Ich kann dem Leid, das Menschen als Kinder erfahren haben, Raum geben. Doch ich muss nicht mehr entschuldigen, was Erwachsene, die einmal Kinder waren anderen antun.
Und trotzdem – oder gerade deshalb – wünsche ich dem Täter göttliche Gnade. Dass auch er die Kraft und den Raum findet, menschlich zu werden.
Denn das Leben ist heilig. Und jeder Mensch bleibt gerufen, es zu achten – bei sich und beim anderen.
Diese Erkenntnis macht mich nicht hart – sie macht mich klar.
Und sie macht mich dankbar. 🙏
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Herzlichst Karin