Ende August, kurz nach dem Schulstart, erreichte mich eine Anfrage von unserer Spielgruppen-Vereinspräsidentin. Sie fragte mich, ob ich bereit wäre, ein vierjähriges Kind mit Migrationshintergrund in meiner Sprachspielgruppe aufzunehmen. Das Kind sprach noch kein Deutsch und hatte grosse Schwierigkeiten, sich von seiner Mutter zu trennen. Aufgrund dieser Trennungsängste war es dem Kind nicht möglich, im regulären Kindergarten zu bleiben und es musste seine Kindergartenklasse wieder verlassen.
Die Eltern waren verzweifelt. In ihrer Not wandten sie sich an die Spielgruppe, auf der Suche nach einer Lösung. Sie baten darum, ihr Kind in einer Gruppe aufnehmen zu können, da sie dringend einen Platz für das Kleinkind benötigten.
Damals leitete ich eine Sprachspielgruppe. Die Kinder in der Gruppe waren alle aus Migrationshintergründen und sprachen kein oder wenig Deutsch. Diese Anfrage traf mich in einem Moment, in dem zwei Dinge in mir lebendig waren: Das starke Bedürfnis, diesem Kind zu helfen – und gleichzeitig die Verantwortung, für die ganze Gruppe da zu sein. Ich ahnte bereits, was es bedeuten würde: Der zeitliche und emotionale Aufwand für eine gelingende Integration würde gross sein.
Wäre ich nicht gemeinsam mit einer Co-Leiterin unterwegs gewesen, hätte ich diese Aufgabe nicht annehmen können – mir hätten schlichtweg die Kraft und die Kapazität gefehlt.
Da standen sie – und alles war gesagt
Der erste Schritt war getan
Nach meiner Zusage standen die Mutter und ihr Kind an einem Montagmorgen vor der Tür. Als ich öffnete, sah ich das Kleinkind mit panischen Augen und tränennass im Gesicht, während die Mutter verzweifelt ihre Hand hielt. Sofort berührte mich das Drama der Familie und die deutliche Trennungsangst des Kindes. Noch bevor ich sie bat, hineinzukommen, bat ich die Mutter, ihrem Kind mitzuteilen, dass sie als Mutter mit ihr kommen würde und die ganze Zeit in der Spielgruppe bleiben würde. Ich bat sie, dem Kind zu versichern, dass sie es nicht alleine zurücklassen werde.

Tränenüberströmt und von Panik ergriffen hält sich das kleine Mädchen an der Hand seiner Mutter fest.
Es war mir bewusst, dass das Kind unter massiver Trennungsangst litt. Unsere erste Priorität musste daher sein, dem Kind Sicherheit zu geben und ihm das Gefühl zu vermitteln, dass es in dieser neuen Umgebung nicht allein ohne Mutter war. Mehr war in diesem Moment nicht erforderlich, und das war der wichtigste Schritt.
Ich verspürte eine innere Zuversicht – eine leise, aber tragende Hoffnung auf eine gute gemeinsame Reise mit den beiden. Diese innere Gewissheit getragen von Erfahrung und Wissen ermöglichte es mir, auch der Mutter ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Ich wollte ihr zeigen: Ich weiß, was ich tue. Es war mir ein tiefes Anliegen, dass auch sie als Mutter zur Ruhe kommen und neues Vertrauen fassen konnte – in sich, in ihr Kind und in den Weg, den wir gemeinsam gehen würden.
In ihrer Muttersprache sagte die Mutter zu ihrem Kind:
„Ich bleibe den ganzen Morgen mit dir in der Spielgruppe. Und wir gehen gemeinsam wieder nach Hause.“
Ich beobachtete das Kind. Und sah, wie sich Erleichterung in seinem Gesicht ausbreitete und das weinen sich legte – langsam, aber spürbar. 🫡 Erleichterung für uns alle.
Dann traten sie ein – zaghaft, aber gemeinsam
Der zweite Schritt war getan
Jetzt war es Zeit, die beiden einzuladen, den Raum zu betreten. Mutter und Kind folgten mir in den Spielgruppenraum. An der Garderobe half die Mutter ihrer Tochter, die Jacke auszuziehen und die Schuhe abzustellen.
Behutsam begann ich, ihnen die Räumlichkeiten zu zeigen: Wo sich das WC befindet, wie der Ablauf gestaltet ist, welche Rituale wir pflegen und welche Aktivitäten die Kinder erwarten. Ich stellte meine Co-Leiterin vor und die anderen Kinder der Gruppe. Dabei bat ich die Mutter, ihrer Tochter alles in ihrer Muttersprache zu übersetzen. Immer wieder wandte ich mich auch direkt dem Kind zu – mit einem freundlichen Blick, einem Lächeln. Gerade so viel, wie es in diesem Moment aushalten konnte. Ich wusste: All das gibt Orientierung. Und Orientierung schafft Sicherheit.
Ein erster, zarter Boden unter den Füssen – im neuen Raum, in dieser neuen Welt.
Damals bestand die Spielgruppe aus drei Räumen. In zwei davon spielten die Kinder – laut, lebendig, vertieft. Der dritte Raum war der Znüni Raum: Ein Rückzugsraum für Eltern, die ihre Kinder in der Eingewöhnung begleiteten. Ich bat die Mutter, gemeinsam mit ihrer Tochter dort Platz zu nehmen – neben den anderen Müttern, die ebenfalls geblieben waren. Still, fast zaghaft, setzten sie sich.
Ein erster zarter Faden von Vertrauen war geknüpft. Körperliche Nähe und emotionale Sicherheit – das Fundament, auf dem Entwicklung wachsen darf. Das Kind wusste nun: „Ich bin nicht allein. Ich darf hier ankommen.“
Nun war auch für mich der Moment gekommen, mich auch wieder den anderen Kindern zuzuwenden – ihren Bedürfnissen, ihren Spielen, ihren Geschichten.
Der Anfang war leise – aber voller Hoffnung
Da ich mich schon seit längerer Zeit mit dem bindungsbasierten Entwicklungsansatz nach Dr. Gordon Neufeld beschäftige und diesen auch am kanadischen Online-Institut studiert habe, war ich getragen von einem tiefen Verständnis für Trennungsängste. Ich wusste: Bindung ist das Fundament. Von Anfang an war mir klar, wie wichtig es war, die Beziehung zwischen Mutter und Kind nicht zu unterbrechen – nicht einmal durch Andeutungen.
Ich musste alles daransetzen, dass das Kind keine Ahnung, keinen Hauch, keinen Geschmack einer bevorstehenden Trennung wahrnahm.
Es sollte spüren dürfen: „Mama bleibt. Ich bin sicher.“
Den Eltern Halt geben, wenn sie ihn selbst nicht mehr spüren
Dabei spürte ich, wie sehr die Mutter unter Anspannung stand. „Wie soll das gehen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Kind eines Tages allein in der Spielgruppe bleibt.“ In den folgenden Tagen und Wochen war es meine Aufgabe, Mutter und Vater immer wieder zu stärken. Ich durfte ihr Vertrauen nähren – mit meiner Erfahrung, mit meiner Ruhe, mit meinem tiefen Glauben an den natürlichen Entwicklungsplan eines Kindes.
Und was soll ich sagen? Sie liessen sich immer wieder ein – auf meine Worte, auf meine Haltung: „Es wird der Tag kommen, an dem eure Tochter euch ziehen lässt. Ein Tag, an dem sie bei mir bleibt – ganz ruhig und sicher. Weil sie weiss: Mama und Papa gehen… und sie kommen wieder. Weil sie innerlich festhalten kann. Weil sie nicht mehr in Panik gerät – sondern getragen ist von Vertrauen.“ Diesen Moment hatte ich schon oft erlebt, mit so vielen Kindern in meinen Sprachspielgruppen. Und ich wusste: Auch bei ihr wird dieser Tag kommen. Dahin waren wir unterwegs – gemeinsam. In ihrem Tempo. In ihrem Vertrauen. Dann wird es gut sein und dann ist der Trennungsschmerz geheilt.
Vom Klammern zum Vertrauen – ein behutsamer Weg aus dem Schocktrauma
Der dritte Schritt war getan
Was dieses kleine Mädchen erlebt hatte, war mehr als nur eine schwierige Eingewöhnung im Kindergarten. Es war ein Schock: ein neuer Ort, eine fremde Sprache, unbekannte Menschen – und viel zu wenig Zeit, um all das innerlich zu verarbeiten. Kein Wunder, dass ihr System in den Ausnahmezustand ging. Für mich war klar: Wir mussten zuerst das Trauma anerkennen, bevor sich überhaupt etwas lösen konnte.
Mein wichtigster Leitsatz lautete:
Das Kind muss jederzeit zu seiner Mami gehen dürfen.
Wir machen keinen Druck und Manipulieren das Verhalten des Kindes nicht.
Lange Zeit blieb das Mädchen bei ihrer Mutter im Znüniraum. Ich brachte ihnen Beschäftigungsmaterial – ein Puzzle, Malutensilien, ein Bilderbuch. Alles Dinge, die sie gemeinsam tun konnten, ohne Druck, ohne Erwartung.
Wir forderten sie nicht auf, bei den anderen Kindern mitzuspielen. Doch ich warb hin und wieder ganz sanft: „Da drüben spielen die Kinder, schau doch mal …“ Nicht, um zu überreden – sondern um im Inneren ein Bewusstsein entstehen zu lassen: Da ist noch mehr, wenn du bereit bist. Und ich bat die Mutter ausdrücklich, ihre Tochter nicht zu drängen. Denn jedes Drängen riecht nach Trennung – und das durfte auf keinen Fall passieren. Mein großer Vorteil: Ich wusste, dass der Tag kommen würde. Wenn genug Sicherheit da ist, wenn der Hafen stark genug ist, dann erwacht von selbst der Wunsch, hinauszuschauen. Kinder wollen sich entfalten – wenn die Bindung stimmt. Ich vermittelte der Mutter immer wieder: „Es wird kommen. Sie wird sich trauen.“ Und auch wenn es für die Eltern manchmal schwer war – sie vertrauten. Immer wieder. Und das machte alles möglich.
Und plötzlich war da Freude
Sie kamen regelmäßig – zwei Mal pro Woche. Ohne Tränen. Ohne Widerstand. Die Mutter erzählte mir, dass ihre Tochter sich auf die Spielgruppe freute. „Sie fragt am Morgen, ob heute wieder Spielgruppe ist.“
Was für ein Wandel. Aus Angst war Vorfreude geworden. Aus Anspannung – Vertrauen. Und das alles nicht durch Druck, sondern durch Raum. Nicht durch ein „Loslassen müssen“, sondern durch ein Gehaltenwerden.
Ein Kind, das sich sicher fühlt, kann losgehen. In seinem Tempo.
Und dann sass sie da – am Tisch, allein, und doch gehalten
Der vierte Schritt war getan
Wir spürten es alle: Im Mädchen begann sich etwas zu bewegen. Eine leise Aufbruchstimmung war spürbar. Immer wieder forderte sie ihre Mami auf, mit ihr gemeinsam in den anderen Raum zu gehen – dorthin, wo die anderen Kinder spielten. Doch ich verfolgte eine klare Strategie.
Meine Haltung war: Das Kind darf jederzeit bei seiner Mami sein. Doch wenn es in den anderen Raum gehen wollte, dann nur allein – ohne Mami. Hier setzte ich meine sanfte Grenze. Nicht, um sie zu drängen, sondern um dem Kind eine Erfahrung zu ermöglichen: Du darfst dich entscheiden. Und du darfst dich anpassen, wenn du bereit bist. Ohne Zwang.
Ich wusste, der Moment würde kommen. Denn ihre Mami blieb ja in Sichtweite, der sichere Hafen war da. Und tatsächlich: Eines Morgens war es soweit. Ganz von sich aus wagte das Mädchen den Schritt, ging in den anderen Raum und setzte sich an den Tisch, um zu malen. Still, konzentriert – und mit wachem Blick beobachtete sie, was um sie herum geschah.
Für uns war es ein Meilenstein. Kein Anlass zum überschwänglichen Lob, sondern ein stiller Moment der Dankbarkeit. Wir begleiteten sie mit feiner Aufmerksamkeit und tiefem Vertrauen in ihre Entwicklung – Schritt für Schritt, im Tempo des Kindes.
Ein neuer Raum der Sicherheit – kreativ und verbunden
Der fünfte Schritt war getan
Der Tisch wurde ihr sicherer Ort. Hier fühlte sie sich geschützt – nicht zu nah, aber auch nicht ausgeschlossen. Ich begann, sie langsam besser kennenzulernen, und merkte: Sie liebte es zu malen, zu schneiden, zu kleben. Kreatives Arbeiten gab ihr Halt.

Kreativarbeit aus der Spielgruppe 🌞
Also sorgte ich dafür, dass immer Material bereitlag – Papier, Scheren, Leim, Farben. Stück für Stück richtete sie sich in diesem neuen Raum ein – nicht nur physisch, sondern auch innerlich. Es war ihr Platz in der Spielgruppe.
Und dann geschah das, worauf wir gehofft hatten: Andere Kinder kamen dazu. Ganz natürlich, ohne Aufforderung, setzten sie sich dazu. Und bald malten, kneteten und bastelten sie gemeinsam – verbunden im Tun, in der Sprache der Kinder: dem Spiel.
Und dann kam er – dieser eine besondere Tag. Ganz von sich aus stand sie auf, liess ihren sicheren Tisch hinter sich und kam in den Morgenkreis. Sie setzte sich dazu, mitten zwischen die anderen Kinder, und begann mit uns zu singen. Kein Zwang, kein Drängen – nur ein innerer Impuls. Ein Schritt voller Mut, geboren aus Vertrauen. Für uns alle war es ein stilles Fest: Die Verbindung war gewachsen, tief genug, um neue Freiheit zu wagen.
Ein stiller Abschied – und alles war gut
Der fünfte und letzte Schritt war getan
Und dann – fast beiläufig – kam der Moment. Als wäre es das Normalste der Welt, sagte die Mutter: „Also dann gehe ich jetzt und hole dich am Mittag wieder ab.“ „Ja, ist gut, Mami“, antwortete das Mädchen ruhig. Kein Zögern. Kein Festhalten. Einfach Vertrauen.
Die Mutter ging.
Und das Mädchen blieb.
Bei mir und meiner Co Leiterin. In ihrer Kindergruppe. In ihrem vertrauten Raum.
Geborgen in einem Raum mit klaren Ritualen und liebevoller Begleitung.
Der Kreis hatte sich geschlossen. Die Trennung war nicht mehr bedrohlich. Sie war einfach… ein Teil des Lebens geworden.
Fazit
Trennungsängste sind eine normale und gesunde Reaktion auf die Trennung von sicheren Bezugspersonen und gehören zu einer gesunden kindlichen Entwicklung. Bei allen Kindern treten sie in unterschiedlichem Maße auf. Wenn diese Ängste jedoch so stark werden, dass sie das Kind überfluten – wie in meiner Fallstudie – ist besondere Achtsamkeit gefragt. Dann braucht es Zeit, ein stabiles Beziehungsangebot, und ein sicheres Umfeld, in dem das Kind in seinem Tempo wachsen darf.
Im Anschluss an die erfolgreiche Eingewöhnung lud ich die Eltern zu einem Gespräch ein. Sie erzählten mir, wie dankbar sie für diese behutsame Begleitung waren – und wie sehr sie erst im Nachhinein begriffen, welchen Wert die Spielgruppe für ihre Tochter hatte. Sie sagten mir: Beim nächsten Kind möchten sie diesen Weg von Anfang an gehen – noch vor dem Kindergarten.
Einige Zeit später traf ich die Familie zufällig beim Einkaufen. Ich fragte, wie es ihrer Tochter inzwischen im Kindergarten gehe. Die Mutter lachte erleichtert: „Alles gut – keine Probleme.“ Für mich war das ein stiller, aber tiefer Moment der Freude. Der lange Weg hatte sich gelohnt.