Einmal im Monat ist in unserer Stadt am Bodensee Flohmarkt. Wenn es sich einrichten lässt, ziehe ich samstags von Stand zu Stand und lasse alles auf mich wirken. Manchmal suche ich etwas Bestimmtes – oft aber geniesse ich einfach die Atmosphäre. An einem der Stände lagen Bilderbücher aus. Ich liebe Bilderbücher – besonders jene mit ausdrucksstarken, einfachen Bildern und wenigen Worten. Eines davon erzählte das Märchen „Hänsel und Gretel“. Ich nahm es in die Hand – und war plötzlich mitten in einem Gedankenstrom.
Kennst du das auch? Du bist unterwegs, ohne grosse Erwartungen – und dann trifft dich eine Inspiration wie aus dem Nichts. So ging es mir mit diesem Märchen. Ich hatte in meinen Überlegungen zum Thema Verlustangst an vieles gedacht – aber die Kraft des Spiels vergessen und ausgeblendet. Da bin ich der Spielenergie dankbar, dass sie mich auf meinem Weg immer wieder findet 🌞
Nach Gordon Neufeld ist das Anschauen und lesen von Bilderbüchern oder das Eintauchen in Märchen nichts anderes als Spiel: ein sicherer innerer Raum, in dem Emotionen durchlebt werden dürfen, ohne dass sie überwältigend oder bedrohlich wirken. Weil es nicht die reale Welt ist, darf dort alles da sein – auch das, was uns sonst überfordert: Angst, Trennung, Tod, Ohnmacht, Hoffnung, Rettung.
Im Spielraum – im Märchen – in den Geschichten darf alles da sein: Angst, Verloren sein, Einsamkeit, Tod, Vertrauen, Hoffnung, Freude, Rettung.
Märchen greifen oft tief menschliche Themen auf. Man nennt sie Archetypen oder existenzielle Erfahrungen – und sie betreffen uns alle, Kleine wie Grosse: das Gefühl, verloren zu sein, verlassen zu werden, die Angst vor dem Alleinsein, aber auch Vertrauen, Zuversicht und Rettung. Und genau darin liegt ihr Wert. Sie zeigen, dass all das zum Menschsein dazugehört – und dass es Wege gibt, damit umzugehen. All diese Gedanken kamen plötzlich in mir auf, als das Märchenbuch in meinen Händen lag. Es wird mir immer leichter ums Herz, wenn ich die Kraft des Spiels und die Energie des Spielens in meinem Leben wahrnehme, spüre und lebe. Alles fühlt sich einfach ein wenig leichter an. Und genau diese Leichtigkeit möchte ich heute mit dir teilen, während wir uns mit den oft schwierigen Themen von Märchen und deren grossartigen Möglichkeiten auseinandersetzen. 😊
Was hat das Märchen „Hänsel und Gretel“ mit Verlustangst zu tun?
Im Märchen werden die Kinder – durch die Not der Eltern und den Einfluss der „bösen“ Stiefmutter – bewusst in den Wald geführt und dort sich selbst überlassen. Die Trennung von den Eltern und dem vertrauten Zuhause ist ein tiefgreifendes, existenzielles Trauma. Hänsel und Gretel erleben, was es heisst, verlassen zu werden – von jenen, die sie eigentlich beschützen und lieben sollten.
Gerade weil es „nur“ ein Märchen ist, gelingt es uns oft leichter, diese Geschichte emotional zuzulassen. Sie erlaubt uns, die Erfahrung des Verlassenwerdens als etwas Menschliches zu erkennen – selbst dann, wenn wir sie nicht in dieser Form erlebt haben. Viele Kinder – und auch Erwachsene – finden sich in diesen Geschichten unbewusst wieder und erleben durch sie einen emotionalen Resonanzraum.
Märchen – eine Brücke zu den großen Themen des Lebens
Märchen bieten die Möglichkeit, schwierige Themen aufzugreifen – und sie in Geschichten uns selbst oder unseren Kindern zu erzählen. Sie zeigen: Alle diese Emotionen gehört, können zum Menschsein dazugehören. Ich persönlich finde es eine grossartige Möglichkeit, bereits Kleinkindern eine bewusste Auseinandersetzung mit tiefen menschlichen Erfahrungen zu ermöglichen.
Ein zentrales Thema ist Trennungsangst – eine ganz normale, ja sogar notwendige Reaktion auf das, was wir Bindung nennen. Bindung ist, wie Dr. Gordon Neufeld sagt, „die stärkste Anziehungskraft im Universum“. Wenn Kinder mit der Trennung von einer Bezugsperson konfrontiert sind, erleben sie Trennungsangst – das ist keine Schwäche, sondern Ausdruck ihrer tiefen Bindung und natürlichen Abhängigkeit.
Trennungsangst – Eine Herausforderung des Menschseins
Hast du ein Kleinkind zwischen dem ersten und sechsten Lebensjahr dann verstehst du wovon ich spreche. Du kennst die Trennungsangst deines Kindes aus Erfahrung. Du wiesst wie es klammern kann du siehst die Panik in seinen Augen und du fühlst wie schwer es ist dein Kind abzugeben manchmal fast unmöglich. Du spürst und fühlst die Angst deines Kindes es braucht dich für sein Überleben. Und dann komme ich mit diesem Märchen das von einer Stiefmutter erzählt die die Kinder aussetzt von einem Vater der seine Kinder nicht schützt. Wenn ich das so schreibe spüre ich die Diskrepanz zwischen das könnte ich nie tun ein Kind aussetzen und der Realität, dass irgendwo da draussen in der Welt täglich Kinder sehr wahrscheinlich genau dieses Schicksal erfahren.
Das Märchen erzählt diese Geschichte – von Ausgesetzt sein, Angst und Verloren sein. Und ja, wenn wir nur auf diese Tatsachen schauen, erscheint es grausam. Doch ich glaube, das Wesentliche liegt tiefer:
Es geht um die Auseinandersetzung mit Trennungsangst. Diese Erfahrung können wir unseren Kindern nicht ersparen. Wir sollten es auch nicht und Kinder alters und entwicklungsgerecht in ihrer emotionalen Entwicklung darin unterstützen. Als Mutter weiss ich, wie sehr ich mir wünsche, mein Kind vor Schmerz, Angst oder Überforderung zu bewahren. Doch das Leben macht uns alle irgendwann mit Trennung, Verlust und Unsicherheit bekannt – das gehört zum Menschsein dazu.
Die eigentliche Frage ist also nicht: Wie verhindere ich Trennungsangst?
Sondern: Wie begleite ich mein Kind (oder auch mich selber) durch diese Erfahrung hindurch?

Das Leben kann manchmal ganz schön herausfordern sein. Gott sei dank können Kleinkinder weinen und sich festhalten 😊
Wie begleite ich mein Kind mit Märchen (oder auch mich selber) durch herausfordernde Emotionen hindurch?
Wenn wir wissen, dass wir nicht alles kontrollieren können und müssen, entsteht Raum. Raum für Unerwartetes – wie mein Erlebnis auf dem Flohmarkt: Das Märchenbuch fiel mir wie aus dem Nichts in die Hände und mit ihm die Erinnerung an die Kraft des Spiels. Ich glaube, wir sollten die Kraft des Spiels in der Auseinandersetzung mit herausfordernden Emotionen und Lebenserfahrungen viel bewusster in Anspruch nehmen – für unsere Kinder und für uns selbst. Einfach Märchen erzählen, Bilderbücher anschauen, ohne sie erklären zu müssen oder ständigen Belehrungen. Es genügt, die Geschichte zu erzählen – so, wie sie ist. Über Trennung, Wut, Tod, Verlust, Angst. All das darf da sein. Manchmal auch ohne Erklärung.
In meiner Zeit als Wald-Spielgruppenleiterin habe ich erlebt, wie stark Geschichten wirken. Ich erinnere mich an einen Morgen, an dem ich eine Geschichte vorlas. Ich erzählte, was die Figuren erlebten. Ein Mädchen begann plötzlich zu weinen – aus dem Nichts. Es war berührt, nicht überfordert. Und ich war es auch. Ich wusste: Diese Tränen sind gut. Sie sind heilsam. Ich kann heute nicht mehr sagen, welches Buch es war oder was das Mädchen erlebt hatte – aber das ist auch nicht wichtig. Es durfte einfach da sein und fühlen und sich getröstet und getragen wissen.
Im Märchen wird oft erzählt, wie die Figuren schwierige Emotionen meistern, kreativ werden und schliesslich triumphieren. Ein Beispiel dafür ist auch das Märchen von den sieben Geisslein und dem bösen Wolf. Hier wird immer wieder der Moment erreicht, in dem das Böse überlistet und besiegt wird. Am Ende wird ausgerufen: „Die Hexe, der Wolf ist tot!“ – ein Moment der gefeiert und betanzt werden darf und Hoffnung sowie Kraft freisetzt.
Das Märchen zeigt uns, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, zu überwinden, zu wachsen, zu reifen und uns zu entwickeln. Es sind zutiefst menschliche Geschichte, diese Märchen, die uns daran erinnern, dass auch im Angesicht von Herausforderungen und Gefahren eine Lösung gefunden werden kann. Die schwierigen Emotionen dürfen genauso tief gefühlt werden wie der triumphale Moment des Sieges.
Das ist die Kraft von Geschichten vom Spiel: Sie berühren. Sie machen und halten das kindliche Herz weich. Sie helfen, Emotionen zu erkennen, zu spüren, mit Worten zu benennen und zu verarbeiten.
EMOTIONEN Herzensangelegenheiten: Die Wissenschaft der Emotionen
Emotionen Herzensangelegenheiten: Die Wissenschaft der Emotionen ist ein sechs teiliger Kurs der am deutschen Neufeld Institut im Selbststudium belegt werden kann. Ich habe den Kurs selber durchgearbeitet und weiss seit dann das es eine emotionale Entwicklung gibt. Kinder kommen mit der Fähigkeit auf die Welt zu fühlen und sie bringen Instinkte mit auf die Welt die reifen dürfen. Neufeld beschreibt sechs Stufen der emotionalen Reifung.
Lektion 1 – Der Ausdruck von Emotionen
Das erste der drei Gesetze der Emotionen besagt: Emotionen streben nach Ausdruck. Jede Emotion hat eine Aufgabe – und diese kann nur erfüllt werden, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Wird er verhindert oder verfälscht, staut sich die Energie. Genau hier können wir ansetzen. Märchen und Bilderbücher sind so wertvoll, weil sie uns einen Raum öffnen, in dem Emotionen lebendig werden dürfen. Wir können benennen, was wir an Gefühlen, Bewegungen, Erfahrungen in den Geschichten wahrnehmen. Für kleine Kinder ist das genug – sie erleben diese Emotionen in sich, ohne dafür schon viele Worte zu haben.Im Spiel dürfen sie ihre Gefühle ausdrücken – und wenn wir als Erwachsene diese Bewegungen benennen, geben wir ihnen ein Wort für das, was sie empfinden. Und das ist grossartig.
Ich erinnere mich an ein Mädchen in meiner Spielgruppe. Sie sprach kaum Deutsch. Eines Tages im Garten war sie sehr frustriert, weil etwas nicht klappte. Ich sagte zu ihr – mit entsprechendem Gesichtsausdruck: „Du bist frustriert.“ Sie sah mich an, wiederholte mehrmals: „Frustriert. Frustriert.“ Sie hatte ein neues Wort für das, was sie fühlte.
Das war eine dieser kleinen, stillen Lektionen, die eigentlich riesig sind: Benannte Emotionen können geordnet und getragen werden.
- Lektion 2 – Verhinderter Ausdruck
- Lektion 3 – Gefühle und Verletzungen
- Lektion 4 – Gleichgewicht, Selbstbeherrschung und Rücksicht
- Lektion 5 – Fünf Schritte zur emotionalen Gesundheit und Reife
- Lektion 6 – Verhaltensprobleme als emotionale Probleme sehen und behandeln
Gerne empfehle ich dir diesen Kurs im Selbststudium.
zum weiterlesen: Traumatisierte Trennungsangst überwinden: Eine Spielgruppen-Fallstudie
Schreibe deine Gedanken, Fragen oder Anliegen zum Artikel gerne in den Kommentar. Ich freue mich auf Reaktionen.
Herzliche Grüsse
deine Karin